Raschplatz, Hannover. Die Sonne scheint und kein Wind weht, doch es ist nicht einmal fünf Grad warm. Kurz vor 14 Uhr verlässt Angela Spengler die Räume des SIDA e.V.s. Draußen begleiten wir sie, wo sie den Menschen hilft, die sich selbst nicht helfen können

Angela ist Krankenpflegerin und seit Mai 2020 mit dem SIDA Mobil unterwegs, einem Bollerwagen gefüllt mit Mullbinden, Pflastern und Medikamenten, mit dem sie und ihre KollegInnen die Wohnungslosenszene Hannovers medizinisch erstversorgen – heute zusammen mit ihrer Kollegin Ainikki Gerhard. Die Pflegerinnen machen den Bollerwagen startklar und dann geht es mit dem Fahrstuhl hinab ins Erdgeschoss des Ärztehauses am Raschplatz. Am ZOB vorbei führt der Weg Richtung Oettingerwiese – einem der Orte der TrinkerInnenszene Hannovers, direkt am Bahnhof. Hier erwarten uns schon die ersten PatientInnen.
Angela spricht einen Mann an, der im Rollstuhl sitzt und eine Brille trägt, fragt ihn, ob er eine Maske und ein Paket Taschentücher haben möchte. Das macht sie, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen und ein erstes Vertrauen zu schaffen. Der Mann antwortet auf Rumänisch. Sofort kommt ein Freund des Mannes zu Hilfe und übersetzt. Dann plötzlich wird auf Spanisch kommuniziert, es entsteht ein Übersetzungschaos.
Wir finden heraus, dass der Mann im Rollstuhl Vasile Vlaicu heißt. Er braucht keine Behandlung, aber die Taschentücher und die Maske nimmt er dankend an.

Angela (links) eröffnet das Gespräch über Smalltalk. Vasile (rechts) ist heute ihr erster Kontakt.

Jetzt, wo der Kontakt zur Szene auf der Oettingerwiese hergestellt ist, gesellen sich einige potentielle PatientInnen dazu und warten geduldig, bis sie an der Reihe sind. Die Pflegerinnen strukturieren ihre Arbeit ganz klar: »Angela behandelt die Leute, sie ist häufiger beim SIDA Mobil aktiv und kennt sie besser als ich«, erzählt Ainikki, die derweil den Patientenandrang managet. Auf ein gutes Vertrauensverhältnis komme es bei der Arbeit im SIDA Mobil an. Dass es eine hohe Hemmschwelle gibt, medizinische Hilfe anzunehmen, sehen wir am nächsten Patienten.

 

Stuhl im Schuh

Angela kennt den Patienten schon und weiß, dass ein paar seiner Zehen amputiert sind. Als sie seine Füße in Augenschein nimmt, sieht sie, dass sich im Schuh des Patienten flüssiger Kot befindet, ebenso an den Innenseiten seiner Hosenbeine. Angela gibt ihm ein paar rezeptfreie Tabletten gegen Durchfall. Ainikki erklärt uns später: »Der hätte das mit dem Durchfall wahrscheinlich nie selbst angesprochen.« Angela ergänzt: »Das hat sich erst ergeben, als ich seinen Fuß untersucht habe.« Wieviel Zeit der Mann bereits in kotverschmutzter Kleidung verbringen musste, bleibt unklar. Zu fragen wäre unangebracht, das Ganze ist dem Patienten sichtlich unangenehm. Zuletzt legt Angela ihm noch die Fußpflege der Caritas nahe und ein Freund des Patienten bedankt sich an seiner Stelle bei den Pflegerinnen.

»Wohnungs- und Obdachlose sollen Vertrauen zu den Pflegenden aufbauen«, erklärt Ainikki. »Dann nehmen wir sie mit in Versorgungsstrukturen und vermitteln sie in das medizinische Netz.« Das wird auch bei den Behandlungen deutlich: Angela gibt den PatientInnen zum Abschluss weitere Anlaufstellen für ihre individuellen Problemlagen mit, einem Patienten mit Nackenschmerzen empfiehlt sie die Gesundheitssprechstunde im Kontaktladen Mecki, einem anderen die Straßenambulanz der Caritas: »Am Montag bin ich auch da, kommen Sie doch dann mal vorbei.«

Voyeurismus

Angela verbindet die Kopfwunde des nächsten Patienten. Es ist viel los an der Oettingerwiese, Anzugträger laufen an uns vorbei, zwei ältere Damen bleiben nah am Bollerwagen stehen und beobachten die Szenerie einige Minuten still. Mehrfach wird Ainikki gefragt, ob das SIDA Mobil auch Suppe oder Kaffee verteilt. Sie erklärt, dass die Pflegekräfte sich nur um medizinische Anliegen kümmern können. Daraufhin bleiben einige der Fragenden und reihen sich in die Schlange ein. Ein älterer, ungepflegt wirkender Passant bleibt stehen und will diskutieren, doch Ainikki wickelt das Gespräch gekonnt ab. Kurz darauf wird unser Fotograf von einer Frau angepöbelt. Sie hält ein Dosenbier in der Hand und ist sichtlich verärgert, dass wir die Arbeit des SIDA Mobils dokumentieren. Vielleicht hält sie uns für Elendstouristen oder Voyeure. Verständlich.

Ainikki

Ainikki (links) und Angela (mittig) sind ein eingespieltes Team und lassen sich nicht aus der Ruhe bringen.

Bevor wir den Standort wechseln, behandelt Angela noch einen Patienten. Er ist 24 Jahre jung, kommt ebenfalls aus Rumänien und spricht mit uns Spanisch und Deutsch. »Es ist immer kalt, es ist scheiße. Ich habe Schmerzen, weil es immer kalt ist.« Seinen Namen erfahren wir nicht – entweder versteht er die Frage nicht, oder er möchte ihn uns nicht geben. Angela klebt derweil Pflaster auf die verschorften Wunden an seinen Fingern. Die Wundheilungsbedingungen auf der Straße sind nur suboptimal. »Wunden heilen nur bei mehr als 28 Grad«, sagt Angela. Als die Pflaster schließlich kleben bleiben, entfernen wir uns von den Bänken an der Oettingerwiese. Die Pflegerinnen füllen nun einen Statistikbogen aus, unter anderem für Zwischenberichte an die Stadt Hannover.

Auf dem Weg zum nächsten Zwischenstopp treffen wir die Pöblerin wieder. Diesmal keine Konfrontation. Ainikki erzählt uns von einem ehemaligen SIDA-Patienten, der lange obdachlos gewesen sei und in der Unterkunft am Alten Flughafen gelebt habe. »Durch SIDA konnte er in eine Krankenwohnung vermittelt werden. Dort dolmetscht er nun für seine MitbewohnerInnen Polnisch und Deutsch.« 

Kollision der Klassen

Angela

Während Angela (links) bei und mit den PatientInnen arbeitet, reicht
Ainikki (rechts) ihr Pflaster und Mullbinden aus dem Bollerwagen an.

Wir kommen bei einer Gruppe Männer an. Sie trinken Bier in Dosen und Kurze in Fläschchen. Es herrschen trockener Humor und ausgelassene Stimmung, wie auf einem Dorffest. Nur eben an einem Montag um zwanzig vor drei hinterm Hauptbahnhof. Hier treffen wir Rainer, über den Asphalt schon im August 2020 berichtete. Ein ruhigerer Mann sitzt auf einem Rollator am Rand der Gruppe, während 40 Centimeter hinter ihm im Außenbereich eines Cafés zwei gestriegelte Männer in Steppjacken Kaffee trinken und die Szenerie begutachten. Ein Passant, der nicht zur Trinkergruppe gehört, scheint das SIDA Mobil zu erkennen und bittet die Pflegerinnen um einen Verbandswechsel. »Der Verband, den er trug, war mindestens eine Woche alt«, ordnet Angela ein. Wir sind hier fertig und gehen weiter in das Erdgeschoss eines Parkhauses. Dort fällt Ainikki auf, dass die kniehohe Eisenstange, die die Pflegerinnen schon häufig als Sitzgelegenheit für ihre PatientInnen genutzt haben, verschwunden ist. Wir fragen uns, ob die Stange vielleicht genau deshalb entfernt wurde. Obdachlosenfeindliche Architektur ist ja nichts Verwunderliches mehr.

Security vs. Sicherheit

Wir machen uns auf zur nächsten Station: Der Bereich hinter dem Hauptbahnhof, der Übergang zum Raschplatz. »Hier ist gerade wenig los«, stellt Ainikki fest. »Es kann sein, dass eben erst (Sicherheitskräfte von) protec hier waren. Dann sind erst einmal alle weg.« Doch dann findet Angela eine Gruppe obdachloser Männer. Zwei von ihnen ziehen unseren Fokus auf sich. Der eine, Cristóbal, erzählt uns auf Spanisch, dass er Probleme mit der Lunge habe, nicht richtig atmen könne. Trotzdem redet er sehr laut und eindringlich auf uns ein, flirtet mich an und bezeichnet den Rest der Gruppe als »Schwuchteln«. Er wird übergriffig, zieht mich zu sich heran und fragt, ob ich mit ihm duschen gehen wolle. Dann lacht er und nimmt mir mein Notizbuch aus der Hand. Er beißt hinein.

Angela

Viele PatientInnen sprechen kein Deutsch. Angelas Spanisch- und
Englischkenntnisse helfen häufig weiter, aber nicht immer.

Die Pflegerinnen machen weiter ihre Arbeit. Der Gesichtsausdruck des zweiten Mannes wirkt gequält, er hat mehrere, fast handflächengroße, verunreinigte, teilverschorfte Schürfwunden am Bein und eine Wunde am Kopf. Angela verbindet seine Kopfwunde, dann kümmert sie sich um sein Bein. Mariusz wirkt immer verzweifelter, er reißt sich den Kopfverband herunter. Verständnisproblemen zum Trotz findet unser Fotograf heraus, dass der Mann Mariusz heißt, 42 Jahre alt ist, schon länger auf der Straße lebt und Angst hat, dass sein Arm amputiert wird, weil er seine Hand kaum bewegen kann. Seine Kopfverletzung habe er von einem Freund, der ihn mit einer Flasche geschlagen habe. Außerdem habe er einen Schlaganfall erlitten und bekomme keinen Termin in einer neurologischen Praxis, obwohl das laut Ainikki dringend nötig wäre.

Nachdem wir Cristóbal abmoderiert und die Pflegerinnen alles getan haben, was sie für Mariusz tun können, gehen wir weiter in Richtung Weißekreuzplatz. So langsam wird es dunkel und kälter. Beim Kontaktcafé für Drogenabhängige vom »Neuen Land« versorgt Angela einen Mann mit einem geschwollenen Knöchel. Die Pflegerin salbt seinen Fuß ein und verbindet ihn neu. Wir treffen einen der ersten Patienten wieder, er scheint sich darüber zu freuen. Sein Pflaster trägt er nicht mehr. Dann gehen wir weiter, um den Pavillon herum und über den Weißekreuzplatz. Die Pflegerinnen verteilen noch ein paar Packungen Taschentücher sowie Masken, doch die meisten obdachlosen Menschen haben sich scheinbar bereits auf ihre Schlafplätze oder in Unterkünfte zurückgezogen. Dann sehen wir eine über hundert Meter lange Schlange aus hilfesuchenden Menschen.

Viele der PatientInnen haben chronische Wunden, die ambulant nur schwer behandelt werden können.

Heute findet auf dem Andreas-HermesPlatz eine Essensausgabe statt. Ainikki bleibt mit dem Bollerwagen gut 40 Meter von der Schlange entfernt stehen. »Angela spricht jetzt gezielt Leute an, von denen sie weiß, dass sie Hilfe brauchen könnten«, erklärt Ainikki.
»Wenn wir mit dem Bollerwagen zu dicht an den Leuten vorbeigehen, denken sie, bei uns gibt es was umsonst und plündern den Bollerwagen. Das ist schonmal vorgekommen.« Angela kommt allein zurück, heute scheint niemand Hilfe zu brauchen. Es ist inzwischen 17 Uhr und wir treten den Rückweg an.
Zurück im Ärztehaus am Raschplatz sehen wir uns den Statistikbogen an: Die Pflegerinnen hatten heute insgesamt 73 Kontakte und neun Menschen wurden behandelt. Wir sind froh, dass die Tour nun nach ungefähr dreieinhalb Stunden vorbei ist und wir uns drinnen wieder aufwärmen können – und uns geht es medizinisch gut. Kaum vorstellbar, einen ganzen Winter mit offenen Wunden und Schmerzen draußen zu verbringen.
Doch für die meisten Menschen, die wir heute getroffen haben, ist genau das die kalte Realität.

Laureen Dreesch | Fotos: Selim Korycki

Als wir den Rückweg antreten, ist es schon dunkel und wesentlich kälter als zu Beginn der Tour.

 

Dieser Artikel stammt aus der Zeitschrift Asphalt vom Januar 2022.

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Asphalt 01-2022