Konzept für eine patientenorientierte, evidenzbasierte Versorgung von Patienten mit akut-schubförmig und chronisch-progredient verlaufenden, komplexen und schwierig zu behandelnden Erkrankungen wie Multiple Sklerose

Vorwort von Tanja Potulski, neues Vorstandsmitglied seit Anfang 2017 und Geschäftsführerin von SIDA e.V.

Als Patientensprecherin, selbst seit 25 Jahren an MS erkrankt, begann ich, SIDA e.V. in der Krise zu unterstützen. Das Team von SIDA e.V., Pflegekräfte und Ärzte, steht mir seit 16 Jahren in schweren und schwersten Zeiten zur Seite. Vor SIDA wurde die Vereinbarkeit von „Krankheit und Beruf“ zunehmend zu einem nervenraubenden Drahtseilakt. Die professionelle und schnelle Hilfe in der Krise, von der ich viele Male profitiert habe, möchte ich nun zurückgeben. Und ich möchte für alle Mitbetroffenen das erhalten, was mir so geholfen hat und immer noch hilft.
MS- Patientinnen und Patienten mit versorgungspflichtigen Kleinkindern oder körperlicher Behinderung mit starker Einschränkung der Mobilität und Selbstständigkeit, Patienten mit einer implantierten Schmerz- und Medikamentenpumpe, Wachkomapatienten, schwer gehbehinderte oder mit multiresistenten Keimen infizierte Patienten gehören zu den am meisten betroffenen vulnerablen Gruppen, die sich am wenigsten für ihre Belange einsetzen können. Trotzdem haben sich zahlreiche Patienten und Angehörige seit Oktober 2016 für den Erhalt der integrierten Versorgung eingesetzt- denn gerade um diese Patienten kümmert sich SIDA intensiv.
Konventionelle neurologische Praxen verfügen in der Regel nicht über die zur Behandlung mit intravenösen Immuntherapeutika erforderliche Praxis-und Personalausstattung sowie die spezielle fachliche Erfahrung und Kompetenz im Umgang mit diesen Medikamenten. Die Durchführung der MS-Infusionsbehandlungen stellt aktuell bei der unzureichenden finanziellen Abbildung der speziellen zeit-, raum- und personalintensiven Leistungen im Leistungskatalog eine hohe finanzielle Belastung der Praxen dar, mit der Konsequenz, dass fast alle Einrichtungen und Praxen diese immuntherapeutischen Behandlungen nicht anbieten. Das Problem derVersorgung dieser MS-Patientinnen und Patienten ist somit nach wie vor ungelöst, bzw. wird die Versorgung in wenigen Spezialambulanzen an einigen Krankenhäusern durchgeführt, zu denen in Flächenstaaten wie Niedersachsen nur ausgesuchte Patienten Zugang haben. Überflüssige Untersuchungen, unzureichende und abgelehnte Behandlungen in Krankenhäusern, Notaufnahmen und Praxen führen zu Resignation, Skepsis und damit zurückgehender Compliance, Adhärenz und Resilienz.
Eine Arbeitsgemeinschaft der DMSG mit den Krankenkassen hat erhebliche Versorgungslücken aufgedeckt und im August 2017 vorgestellt. Diese Ergebnisse werden jetzt von der Kassenärztlichen Vereinigung (u.a.) mit Zahlenmaterial untermauert und konkretisiert. Auch SIDA arbeitet aktuell an einem Forschungsprojekt zur Versorgungssituation von MS- Betroffenen in Niedersachsen.
Mit diesem Konzept beginnen wir den „Neustart“.
Tanja Potulski

 

Vorwort von Elmar Straube, Vorstand und Gründungsmitglied von SIDA e.V.

SIDA e.V. bietet seinen Patienten auch heute noch eine einmalige integrierte Versorgungsstruktur, die sich Ende der 80er Jahre aus den Anfängen der deutschen AIDS- Hilfe heraus entwickelt hat. Die Herausforderungen die wir damals in der sich abzeichnenden HIV-Epidemie gesehen haben, gaben uns den Antrieb, ein innovatives Konzept zu entwickeln, das sich inzwischen für viele weitere Erkrankungen als nützlich erwiesen hat.
Wir orientierten uns an Vorbildern, die in den USA als managed care bekannt geworden sind und in Deutschland der Zeit erheblich voraus waren. Ähnliche Konzepte werden im Bereich der Sozialpsychiatrie heute noch als innovativ gefeiert. Für seine vorbildliche Struktur wurde SIDA im Jahr 2011 mit dem niedersächsischen Gesundheitspreis ausgezeichnet.
Warum wurden dann in 2016/2017 die bestehenden Versorgungsverträge von den meisten Krankenkassen in Niedersachsen gekündigt? Wie konnte es dazu kommen, dass der SIDA e.V. hierdurch und durch das gleichzeitige Ausbleiben von Spenden und Fördermitteln plötzlich am Rande der Insolvenz wandelte?
Wir blicken heute auf eine erfolgreiche Zeit zurück und auf eine Krise, in der unsere gesamten Selbstheilungskräfte gefordert waren. Rückblickend muss man wohl einräumen, dass wir, angetrieben von Idealismus und Pragmatismus, im Engagement für „die gute Sache“ und in Strukturen, welche über Jahrzehnte gewachsen sind, oft sehr unkonventionell gehandelt haben.

Vielleicht haben wir uns auch zu sehr darauf verlassen, dass der Antrieb unseres Handelns allseits erkannt wird und „für die gute Sache“ immer weiter unbürokratische Unterstützung bekommen würden. Das „Gesundheitssystem“ als Rahmen unseres Handelns, das wir oft heftig kritisiert haben, hat uns nun deutlich unsere Grenzen aufgezeigt.
Ganz sicher haben wir uns lange Zeit zu wenig darum bemüht, zukunftsfähige eigene Kontrollmechanismen und organisatorische Strukturen zu entwickeln, um die Mittel für unser Tun nachhaltig zu sichern. Wir haben uns zu lange als Pioniere gesehen, denen Vieles nachgesehen wird und denen alles gelingt.
Zuviel hat in der Vergangenheit auch an Personen gehangen. Emotionen haben sachliche Auseinandersetzungen fehlgeleitet. Wir wollen jetzt selbstkritisch und sachlich nach vorne schauen, aus der Krise lernen und uns nicht nur personell erneuern. Aus den Fehlern der Vergangenheit haben wir gelernt. Die Pioniere stehen inzwischen vor dem Rückzug aus dem operativen Geschäft und suchen nach strukturellen Lösungen, um den Weiterbetrieb unseres Projektes zu sichern, das wir wie ein Kind auf den Weg zur Selbständigkeit führen möchten.
Wie bereits im Oktober 2017 in Aussicht gestellt legen wir hiermit ein neues Versorgungskonzept vor, das die Grundlage für den Neuabschluss von Verträgen ermöglichen soll.
Elmar Straube

1. Wirtschaftlichkeitsnachweis und Nutzen der Integrierten MS-Versorgung

Insgesamt über 2.500 MS-Patienten und 40 Krankenkassen haben sich seit 2002 in das SIDA-MS- System einschreiben lassen bzw. Versorgungsverträge oder Einzelvereinbarungen mit SIDA gefasst.

1.1 Verlässliche, frühzeitige Diagnostik

Zur Behandlung erster Symptome steuern MS-Patienten in der Regel zuerst den Hausarzt oder Neurologen an. Die Diagnose wird häufig spät gestellt, weil sie schwierig zu treffen ist und ein Trauma für die meist jungen, weiblichen Patienten bedeutet. Intensive fachliche Beratung und psychosoziale Begleitung wären im Prozess der Diagnostik erforderlich, um eine konstruktiv Bewältigung zu gewährleisten. Zur Abklärung einer gesicherten MS-Verdachtsdiagnose werden die Patienten weiterverwiesen: Nur in Krankenhäusern kann eine MS-Diagnose (mittels Lumbalpunktion) durchgeführt und abgerechnet werden. Zwei bis drei Tage Krankenhausaufenthalt fallen damit für die Patienten an. Damit ist die Schwelle zu einer verlässlichen Diagnose relativ hoch angesetzt. Zwischen 2002 und 2016 konnten die Neurologen ihre Verdachtsfälle auch an das SIDA- Neurozentrum überweisen. Die Zugangsschwelle war für die Patienten damit erheblich niedriger, eine frühere gesicherte Diagnose und rechtzeitige angemessene Therapie dadurch wahrscheinlicher. Damit konnte der weitere Verlauf günstig beeinflusst werden.

1.2 Vermeidung unnötiger Krankenhausaufenthalte

Aktuelle polyzentrische Studien aus NRW belegen, dass mit einer Integrierten Versorgung die Krankenhausaufenthalte bei MS um etwa die Hälfte reduziert werden konnten. Damit sind die Ergebnisse flächendeckender Projekte in der Tendenz genauso deutlich wie Zahlen aus dem Netzwerk der SIDA-Ärzte (Straube / Voss, Menck), die einen sprunghaften Anstieg der Krankenhausaufenthalte bei MS- Patienten dokumentieren für das Jahr 2017, das Jahr in dem die IV- Verträge von den meisten Kassen gekündigt wurden. Nur bei den BKKen, die in der IV geblieben sind, sind die Zahlen konstant geblieben.

Tabelle 1: Entwicklung der Krankenhauseinweisungen bei MS Praxis 1
Jahr Pat. alle Kassen Einweisung gesamt AOK BKK EK:TK,BARMER,DAK sonstige
2012 443 6 1 1 4  
2013 445 8 4 2 2  
2014 464 15 5 1 5  
2015 469 10 4 1 5  
2016 470 13 4 3 6  
2017 453 45 19 3 21 2

In dieser Praxis betrug der Anteil an Krankenhauseinweisungen vor der Vertragskündigung 4,23 % aller Patienten, nach der Vertragskündigung mussten 10,06 % aller Patienten ins Krankenhaus eingewiesen werden. Bei den Einweisungen, die trotz der integrierten Versorgung erforderlich geworden sind, handelte es sich u.a. um Einweisungen wegen der Implantation von Baclofenpumpen, wegen intrathekaler Kortisontherapie, wegen chronischen Schmerzsyndroms oder wegen Behandlung von PML.

Tabelle 2 Entwicklung der Krankenhauseinweisungen bei MS Praxis 2
Jahr Pat. alle Kassen Einweisung gesamt AOK BKK EK:TK,BARMER,DAK sonstige
2012 561 10 1 1 4 2
2013 605 13 1 4 7 1
2014 637 15 3 2 9 1
2015 664 16 1 3 11 1
2016 680 13 2 2 8 1
2017 686 41 8 2 16 15

In dieser Praxis betrug der Anteil an Krankenhauseinweisungen vor der Vertragskündigung 2,19 % aller Patienten, nach der Vertragskündigung mussten 5,97 % aller Patienten ins Krankenhaus eingewiesen werden. In dieser Praxis ist neben den o.g. Aspekten zu berücksichtigen, dass die Patienten hier teilweise aus Regionen kommen, wo eine integrierte Versorgung durch SIDA e.V. nicht existiert.

1.3 Vermeidung unnötiger Arbeitsunfähigkeiten und vorzeitiger Berufsunfähigkeit

Studien belegen, wie wichtig eine konstante, vernetzte und multidimensionale Versorgung bei MS ist. Dabei spielen Komorbiditäten mit anderen Erkrankungen (v.a. Formen der Depression) eine Rolle, die wie vielfach belegt und unbestritten ein großes Risiko für erhebliche Einschränkungen von Lebensqualität, Erwerbsfähigkeit und sozialer Desintegration mit sich bringen. Nicht nur durch die Vermeidung von Krankenhausaufenthalten, sondern durch die Abmilderung des Krankheitsverlaufs bei frühzeitiger und angemessener Behandlung reduzieren sich Krankheitsfolgekosten in ungeschätzter Höhe. Die Integrierte Versorgung bei MS übernimmt damit eine wichtige Aufgabe in Sekundär- und Tertiärprävention bezogen auf MS und Primärprävention bezogen auf die Komorbidität mit volkswirtschaftlich einflussreichen Begleiterkrankungen. Wobei durch die demografische Entwicklung einer alternden Gesellschaft die künftigen Auswirkungen heutiger Fehlentwicklungen sich potenzierende Auswirkungen in langfristiger Perspektive haben werden. Eine besondere Bedeutung hat die MS für den „volkswirtschaftlichen Schaden“ durch Krankheitsfolgen weil die Erkrankung meist im jungen Alter auftritt und fortschreitend verläuft.

1.4 Fachgerechte Behandlung vor Ort in der Häuslichkeit der Patienten

Da die Bettenkapazitäten der Kliniken oft begrenzt sind und so MS-Patienten im Falle eines Schubes oft nicht sofort stationär aufgenommen werden können, vergehen zwischen Auftreten der Schubsymptome und Beginn der Kortisonbehandlung häufig längere Wartezeiten. Ein später Behandlungsbeginn der Kortison-Stoßtherapie eines MS-Schubes birgt das Risiko einer schlechteren Zurückbildung der Schubsymptomatik und somit einer bleibenden Behinderung. Bei einer rechtzeitigen angemessenen Behandlung im häuslichen Umfeld, in Alten- und Pflegeheimen und Wohneinrichtungen wird zudem die Lebensqualität der betroffenen Patienten gesteigert, die Belastungen durch die Therapie werden reduziert und damit Resilienz, Adhärenz und Gesundheitskompetenz gefördert.

1.5 Voraussetzungen für eine flächendeckende und hochwertige Versorgung unabhängig von der örtlichen Facharztdichte

Durch die aufsuchende Struktur konnten vom SIDA-System bis 2016 Patienten in weiten Teilen Niedersachsens bis zu Randgebieten angrenzender Bundesländer profitieren, die nun aufgrund der örtlichen Facharztdichte schwerer Zugang zu Diagnostik, Behandlung und Versorgung finden. Dabei kommt der Bildung von ärztlichen Netzwerken und dem Aufbau einer gemeinsamen Dokumentation erhebliche Bedeutung zu.

1.6 Gesundheitsförderung Patientenorientierung, Empowerment und aktivierende, ressourcenorientierte Pflege

Durch Patientenschulungen, telefonische Beratungen und aufsuchende Hilfen als Elemente der Integrierten Versorgung werden im SIDA-System die Selbsthilfefähigkeiten der Patienten unterstützt. Dadurch entfallen Behandlungs- und Pflegekosten, indem sie Gesundheitskompetenz der Patienten gefördert wird. Auch Therapiezufriedenheit und Verständnis für die Krankheit fördern die Compliance der Patienten und damit gleichzeitig deren Resilienz. Erhebliche Kosten entstehen hingegen durch Therapieabbrüche, die durch eine vernetzte Versorgung vermieden werden können. Im SIDA-System werden Brüche und Informationslücken zwischen verschiedenen Behandlern reduziert. Die Akzeptanz der Patienten gegenüber der Therapie steigt dadurch, weil durch regelmäßigen Austausch und konstante Ansprechpartner das Vertrauen in die Behandlung steigt. Zweifel und Ängste werden reduziert. Therapieabbrüche sind unwahrscheinlicher. Therapietreue zahlt sich auch dadurch aus, dass vorzeitige Verschlimmerung und soziale Desintegration der Patienten vermieden werden. Indem das SIDA-System den Zugang der Patienten zur Versorgung erleichtert und die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten unterstützt werden die Risiken und Kosten von Nicht- und Falschbehandlungen reduziert.

2. SIDA- Situation 2002 bis 2017

Vor den Vertragskündigungen durch die Kassen 2017 waren 2.000 MS- Patienten in die Integrierte Versorgung eingeschrieben. Dazu kamen über 500 Patienten mit Einzelvereinbarungen. Im Schubfall konnten sie kurzfristig (innerhalb von 24 Stunden) im häuslichen Umfeld über drei bis fünf Tage mit Kortison versorgt werden. 43 Substitutions- und 21 Medikamenten- und Schmerzpumpenpatientinnen werden von SIDA versorgt. In 2016 erhielten 146 MS-Patientinnen und Patienten eine häusliche Versorgung mit Kortison- Infusionen über 3-5 Tage.

2.1 Der Zusammenbruch des alten Finanzierungssystems

Der Pflegedienst erhielt von den beteiligten Krankenkassen ausgehandelte Vergütungssätze, in denen das Honorar für die im Netzwerk organisierten Ärzte enthalten war oder als „Case-Management-Pauschale“ zusätzlich vergütet wurde. Zusätzlich erhielt der Verein Fördermittel, Spenden und Sponsoring von Privatpersonen und der Pharmaindustrie. Seit der Einführung der neuen Antikorruptionsvorschriften (§§ 299a, b StGB) war es nicht mehr zulässig, dass Spenden aus der Pharmaindustrie an Ärztinnen und Ärzte im System zurückflossen. Die Spenden, mit denen SIDA seinen Haushalt ausgeglichen hatte, blieben aus. Der Versuch, kurzfristig kostendeckende Pflegesätze zu verhandeln scheiterte, die meisten Kassen kündigten ihre Versorgungsverträge (am 01.04.2017 die AOK, am 01.07.2017 DAK, TKK und Knappschaft). Die Versorgung musste zurückgefahren werden, so dass weniger Einnahmen erzielt wurden, der Verein entging nur knapp der Insolvenz.

3. Neue rechtliche und organisatorische Struktur für den SIDA e.V.

Die rechtliche und organisatorische Struktur wird sich nun ändern. Der Pflegedienst wird nach Umwandlungsgesetz ausgegliedert in eine gemeinnützige, eigenständige GmbH und damit rechtlich vom gemeinnützigen Verein getrennt. Der Verein behält Anteile daran, erfährt eine inhaltliche Neuausrichtung, erhält eine neue Satzung und klar definierte gemeinnützige sozial- und gesundheitspolitische Aufgaben. Der Verein wird als Förderverein auch zukünftig Spendengelder für gemeinnützige Projekte sammeln. Die Pflegesätze verhandelt zukünftig die Geschäftsführung der zu gründenden gGmbH. Die beteiligten Ärztinnen und Ärzte gründen ein Ärztenetzwerk i. S. d. § 87 b SGB V als eigenständige juristische Person. Dieses rechnet seine Leistungen künftig direkt mit den Kassen ab. Das Netzwerk organisiert Qualitätszirkel und Fortbildungen für Fachpersonal und Patienten, legt Qualitätsstandards zur Behandlung von MS- und HIV-Patienten sowie Qualifikationsanforderungen für teilnehmende Praxen fest und verhandelt die Vergütungen für die unter Punkt III genannten ärztlichen Leistungen, die dann von den Krankenkassen an die Gesellschaft oder direkt an die Ärztinnen und Ärzte gezahlt werden. Die Gesellschaft der Ärzte wird sich bemühen, weitere geeignete Ärztinnen und Ärzte für die spezialisierte Behandlung von MS- Betroffenen zu gewinnen. Damit erfolgt insgesamt eine formal-rechtliche und organisatorische Trennung zwischen dem Pflegedienst, dem gemeinnützigen Verein und dem Ärztenetz, wodurch künftig größere Transparenz durch klarere Strukturen gewährleistet werden können.

3.1 Künftige Organisation des Pflegedienstes in der gGmbH

Der Pflegedienst wird in eine eigenständige gGmbH ausgegliedert, woran der Verein Anteile hält. Im Umwandlungs- bzw. Gesellschaftsvertrag wird geregelt, dass der Pflegedienst Teil eines Versorgungsnetzes bleibt, um die integrative Versorgung von unter anderem MS zu erhalten, voranzubringen und auszubauen. Weitere Einzelheiten zur zukünftigen Zusammenarbeit des Vereins mit der gGmbH werden in einer Kooperationsvereinbarung mit der gGmbH festgelegt. Es wird angestrebt, mit allen Krankenkassen eine einheitliche Vergütung für Pflegeleistungen zu vereinbaren.

3.2. Künftige Struktur und Aufgaben des Vereins

Der Verein wird weiterhin Angestellte haben und unter anderem Träger des AIDS-Hilfe-Bereiches bleiben, der Aufgaben der Prävention und im Ambulant Betreuten Wohnen übernimmt und sonstige Veranstaltungen und Projekte des Vereins betreut. Erkrankte werden stärker als bisher in die Vereinsarbeit einbezogen. Mitglieder der sog. Patientenaktionsgruppe, die sich vor einem Jahr zum Kampf für den Erhalt der SIDA zusammengefunden hat, sammeln Daten zur Versorgungssituation bzw. Versorgungsengpässen bei MS in Zusammenarbeit mit dem Verein. Zu diesem Zweck ist bereits eine „Nummer für Kummer“ eingerichtet, bei der Patientinnen und Patienten sich melden können, um auf Schwierigkeiten und Engpässe bei der medizinischen Versorgung hinzuweisen. Der Verein wird sich stärker als bisher aktiv um neue und fördernde Mitglieder bemühen. Der Internetauftritt wird mit aktuellen Nachrichten über die Tätigkeiten von SIDA e.V. und der Patientenaktionsgruppe versehen werden. Ehrenamtliche Patientinnen und Patienten werden gebeten, hierzu den nötigen Inhalt zu liefern. Zukünftig werden auf dieser Internetseite auch aktuelle Forschungsprojekte und zugehörige Fragebögen veröffentlicht, die online ausfüllbar sein sollen. Ein Versorgungsforschungsprojekt wird 2018 starten. Daneben wird der Verein zukünftig mehr Schulungen und Beratungen für Patienten und Angehörige anbieten. Gänzlich neu wird sich der Verein der Thematik der Hilfsmittelversorgung mit Leihrollstühlen annehmen zur Überbrückung der Wartezeiten bis zur Reparatur ihres Hilfsmittels.

3.2 Künftige Organisation und Standards des Ärztenetzwerkes

Die zu gründende Ärztegesellschaft legt mit einem schriftlichen Leistungskatalog fest, welche Qualifikationen für die Teilnahme am Netzwerk erfüllt sein müssen und welche Leistungen für die von den Krankenkassen gezahlte gesonderte Vergütung erbracht werden müssen. Dieser Leistungskatalog wird Bestandteil der zwischen den Krankenkassen und beteiligten Ärzten abzuschließenden Vergütungsvereinbarung. Die Vergütung der ärztlichen Leistungen erfolgt künftig unabhängig von den Leistungen des Pflegedienstes wodurch der Verdacht von „Quersubventionierung“ vermieden werden kann. SIDA e.V, die Geschäftsführung der gGmbH und die Ärzte des Netzwerkes werden darauf hinarbeiten, für die komplexe Versorgung von MS-Patienten nach entsprechenden Qualitätsstandards mit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen und den Krankenkassen kostendeckende Gebühren auszuhandeln. Damit soll eine einheitliche Vergütung für eine klar definierte ärztliche Sonderleistung geschaffen werden. Gleichzeitig kann eine breitere Umsetzung hoher Qualitätsstandards und somit eine bessere Versorgung gewährleistet werden. Weiterhin werden sich die Beteiligten Ärzte dafür einsetzen, dass bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung von neurologischen Praxen gem. § 106 SGB V die hohen Kosten der MS-Therapeutika wesentlich berücksichtigt werden, die zu einer deutlichen Überschreitung der üblichen Verordnungssummen bei den auf MS spezialisierten neurologischen Praxen und damit zu einem stark erhöhten Regressrisiko führen. Die 2017 in der Prüfvereinbarung festgelegten Prüfungsstandards werden hier als ein erster Schritt in die richtige Richtung gesehen.

3.3 Medikamentenversorgung

Bis zum 31.07.2017 erfolgte die Belieferung mit Medikamenten im integrierten Versorgungssystem der SIDA über die Apotheke in Celle. Diese Einschränkung der Wahlfreiheit der Patienten entfällt künftig. Die Patienten können sich frei entscheiden, ihre Medikamente selbst mitzubringen oder (nach schriftlicher Einverständniserklärung) die Medikamente in die beteiligten Praxen zu nach Auswahl zwischen verschiedenen Apotheken bestellen. Die Apothekerkammer ist hierüber informiert und die erforderlichen Erklärungen aller betroffenen Patienten liegen schriftlich vor.

4. Ärztliche Versorgung bei MS (aktuelle Situation)

MS kann in Anbetracht der Vielzahl neuer Medikamente heutzutage sehr viel besser behandelt werden, das Therapiemanagement ist jedoch zunehmend aufwändiger und komplexer geworden. Allein im letzten Jahr wurden zu den bereits zwölf für die Behandlung der MS in den Leitlinien aufgeführten Substanzen drei neue Immuntherapeutika (Daclizumab, Ocrelizumab und Cladribin) mit sehr unterschiedlichen Wirkmechanismen und Eingriffen in das Immunsystem zugelassen und für das kommende Jahr ist die Zulassung von zwei weiteren Substanzen (Biotin, Siponimod) zu erwarten. Aufgrund der sehr unterschiedlichen und komplexen Wirkmechanismen der MS-Therapeutika unterscheiden sich die Substanzen erheblich in ihren Indikationen und Kontraindikationen, der Verabreichungsform und –frequenz sowie der Häufigkeit und Art des erforderlichen Sicherheits- Monitorings. Für eine leitliniengerechte Behandlung von MS-Patienten ist deshalb ein besonderes Fachwissen erforderlich, was nur durch Spezialisierung auf dieses sehr vielschichtige Krankheitsbild, regelmäßige Fortbildungen und Austausch mit Kollegen erreicht werden kann. Durch die Komplexität der verschiedenen neuen MS-Therapeutika, dem hohen zeitlichen Aufwand der Patientenaufklärung und den vielschichtigen Anforderungen an das Monitoring zur Erkennung und Vermeidung von potentiell lebensbedrohlichen Nebenwirkungen (regelmäßige klinische Verlaufsuntersuchungen, Laborkontrollen und Bestimmung des Immunstatus sowie MRT Kontrollen in bestimmten Abständen) ziehen sich viele Neurologen aus der MS- Behandlung zurück. Andere behandeln auch wegen der Überprüfungen und Regressforderungen der KVen infolge hoher Behandlungskosten nur mit den „alten“ Basispräparaten, die jedoch bei einem aktiven Krankheitsverlauf eine unzureichende Wirksamkeit haben. Eine Optimierung der Therapie wird so oft versäumt mit dem Risiko des frühen Eintritts einer bleibenden Behinderung bei den betroffenen Patienten. Viele niedergelassene Neurologen, die nicht mit spezialisierten Praxen oder Zentren zusammenarbeiten, verfügen nicht über die erforderliche personelle, räumliche und medizinische Ausstattung, um Antikörpertherapien (z.B. Tysabri, Mabthera, Lemtrada, Ocrelizumab) oder Chemotherapeutika (Mitoxantron) als Infusion zu verabreichen.

5. Qualifikation der Ärztinnen und Ärzte im SIDA- Netzwerk

Die Leistungen und Qualifikationen der Ärztinnen und Ärzten im ambulanten Versorgungssystem zeichnen sich durch zahlreiche Besonderheiten aus. Diese sind im Leistungskatalog der Neurologen nicht ausreichend abgebildet und sind wegen des hohen zeitlichen, räumlichen und personellen Aufwandes nicht ausreichend vergütet. ● Behandlung von 50-100 MS Patienten pro Arzt/Quartal, Praxisgemeinschaft oder Gemeinschaftspraxis:150 Patienten; ● Mindestens 5- jährige Erfahrung in der MS-Therapie; ● Die teilnehmende Praxis muss die Voraussetzungen für das DMSG-Zertifikat als Schwerpunktpraxis erfüllen, die tatsächliche Anerkennung ist nicht vorausgesetzt; ● Die teilnehmenden Ärzte müssen über die Möglichkeit der Verabreichung von Infusionstherapien zur Schub- und Verlaufsmodifikation auch bei hochaktiven Patienten verfügen, insbesondere die Möglichkeit zur Gabe von Interferonen, Glatirameracetat, Teriflunomid, Dimethylfumarat, Fingolimod, Cladribin, Daclizumab, Natalizumab, Rituximab, Alemtuzumab, Ocrelizumab, Immunglobulinen und Mitoxantron, haben oder mit einer ebenfalls im SIDA-Netzwerk tätigen Infusionsschwerpunktpraxis haben; ● Nachweis über den Besuch von wenigstens 4 MS-gerichteten Fortbildungen/Jahr in den letzten 5 Jahren; ● Nachweis über die Vorbereitung und /oder Durchführung von wenigstens 1 MS-Patientenveranstaltungen/Jahr in den letzten 5 Jahren.

6. Qualifikation der Pflegenden im SIDAnetzwerk

Die Qualifikation der Pflegenden im SIDAnetzwerk orientiert sich laufend fortgeschriebenen Qualitätsstandards und den internen Leitlinien zur Integrierten Versorgung, die Grundlage der Vereinbarungen mit den Krankenkassen ist.

7. Besondere Leistungen in der Versorgung von MS Erkrankten im SIDAnetzwerk

● Die Leistungen und Projekte des SIDA- Netzwerkes sind an den Interessen und Bedürfnissen der Patient ausgerichtet und werden fortlaufend aktualisiert und weiter entwickelt. Stand heute gehören dazu: ● Entwicklung individualisierter Behandlungskonzepte bei der medikamentösen Behandlung der MS (z.B. Anpassung der Dosierung unter den Aspekten der Wirksamkeit, der Sicherheit und der Wirtschaftlichkeit); ● Weiterentwicklung der im Netzwerk erarbeiteten und abgestimmten einheitlichen evidenzbasierten Therapiestandards, Konzepte des Sicherheitsmonitorings und Behandlungspfade; ● Erarbeitung und Durchführung eines speziellen dokumentierten Sicherheitsmonitoring für die einzelnen MS Therapeutika; ● Regelmäßige Durchführung von MS-ausgerichteten Untersuchungen; ● Beratungsangebot zum Thema „ Kinderwunsch, Schwangerschaft, Stillzeit“; ● Möglichkeit der notfallmäßigen Vorstellung und Versorgung von MS Patienten in der Praxis; ● Sicherstellung einer ständigen ärztlichen Erreichbarkeit im Rahmen eines Bereitschaftsdienstes (24 Stunden an 365 Tagen im Jahr) für den Fall einer akuten Notfallsituation oder des Auftretens eines akuten Schubes eines Patienten im System; ● Entwicklung einer Datenbank zur Weiterentwicklung und Auswertung vorhandener Datensammlungen z.B. für Versorgungsprojekte, Studien und Planung von neuen strukturellen Ansätzen auf die jeder Arzt im Netzwerk zugreifen kann; Hier ist in Zusammenarbeit mit der TU- Dresden eine Teilnahme an dem Projekt Integriertes Betreuungsportal Multiple Sklerose (IBMS) geplant, bei dem es um den Aufbau einer Health- Anwendung geht, durch die eine stärkere Vernetzung beteiligter Leistungserbringer und damit eine verbesserte Behandlungsqualität erreicht werden kann; ● Zum 15.01.2018 auf 450 €- Basis ein Datenbankprogrammierer als Ansprechpartner auf Seiten von SIDA e.V. eingestellt; ● Mitwirkung an Umfragen/statistischen Erhebungen zur MS- Versorgungssituation, Krankheitsentwicklung, Lebenssituation und Patientenzufriedenheit ● Teilnahme an Studien und Forschungsprojekten zur MS-Therapie; ● Teilnahme an vom Verein organisierten Qualitätszirkeln zur Klärung aktueller organisatorischer und fachlicher Fragen und fachspezifischem Austausch, Durchführung von Patientenkonsilen; ● Durchführung von MS-Patientenveranstaltungen und Schulungen (mindestens 1 pro Jahr) und ● Fachvorträgen zum Thema Multiple Sklerose bei Haus- und Fachärzten Als Teil des ärztlichen Versorgungsnetzwerkes soll ein „MS Zentrum für Diagnostik und Therapie“ in Hannover gegründet werden. Dies könnte z.B. in Form eines MVZ gem. § 95 Abs. 1 S. 2 SGB V als GmbH mit Gesellschaftern wie Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken und Heil- und Hilfsmittelerbringern betrieben werden, das für alle verordnungsfähigen MS-Medikamente die erforderlichen Ausstattungen und auch über spezialisiertes und qualifiziertes Personal verfügt.

PDF-Download des kompletten Konzepts